Lengfeld – Wie sich die Blindeninstitutsstiftung von der ersten Blindenschule für sechs Kinder in Unterfranken im Jahr 1853 zu einem modernen Sozialunternehmen mit rund 2.500 Beschäftigten entwickelte, zeigt das soeben erschienene Buch „Die Blindeninstitutsstiftung. Ihre Geschichte“ auf. Bei der offiziellen Buchvorstellung verschwiegen die Herausgeber Dr. Wolfgang Drave und Dr. Hans Neugebauer aber auch dunkle Kapitel nicht: Zeitzeugenaussagen über Zwangssterilisationen während der NS-Diktatur, die völlige Zerstörung der Gebäude in der Würzburger Brandnacht und die Beinahe-Auflösung der Stiftung Anfang der 1970er Jahre.
„Seit über 40 Jahren beschäftigen wir uns mit der Geschichte der Blindeninstitutsstiftung“, sagten Dr. Hans Neugebauer und Dr. Wolfgang Drave zu Beginn der Buchvorstellung im kleinsten Kreis am 14.01.2021 in Würzburg. Auslöser für die große Leidenschaft, die die beiden nicht mehr losgelassen hat, waren die Arbeiten an der Festschrift für das 125-jährige Jubiläum im Jahr 1978. Drave, damals Konrektor der Graf-zu-Bentheim-Schule, und Neugebauer, im selben Jahr zum Stiftungsdirektor ernannt, konnten auf nahezu keine historischen Dokumente aus den ersten hundert Jahren nach der Gründung 1853 zurückgreifen. Alle Unterlagen waren in der Würzburger Bombennacht vom 16. März 1945 verbrannt.
Vom Archiv zum Geschichtsbuch
In mühevoller Recherchearbeit durchsuchten sie in den nachfolgenden Jahrzehnten die Archive in München und Würzburg, führten Interviews mit Zeitzeugen, sammelten hunderte von Bildern, Videos und Dokumenten. Mit dem Eintritt in den Ruhestand begannen sie die Unterlagen systematisch in einem Archivraum zu ordnen und zu ergänzen. Dabei entstand die Idee, dieses gesammelte Wissen in Form eines umfassenden „Geschichtsbuches“ niederzuschreiben und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
So verfassten Dr. Wolfgang Drave und Dr. Hans Neugebauer im vergangenen Jahr mit der Unterstützung von 30 Autorinnen und Autoren das Buch „Die Blindeninstitutsstiftung. Ihre Geschichte“. Dass Geschichte durchaus lebendig sein kann, zeigen sie nicht nur mit zahlreichen Abzügen von Originaldokumenten, kleinen Anekdoten und vielen Bildern. Sie lassen in ihrem Buch auch blinde und sehbehinderte Menschen selbst zu Wort kommen.
Verletzung der Menschenwürde
Einer von ihnen, der 1917 geborene Sigfried G., berichtet in einem Interview von Zwangssterilisationen blinder Schülerinnen und Schüler Ende der 1930er Jahre, die von den Nationalsozialisten angeordnet und von den damaligen Verantwortlichen des Blindeninstituts unterstützt worden sind. „Wir können heute nicht mehr gutmachen, dass diese jungen Menschen in ihrer Würde zutiefst verletzt worden sind“, sagte Stiftungsvorstand Johannes Spielmann bei der Vorstellung des Buches und ergänzte: „Deshalb entsteht als Zeichen unserer geschichtlichen Verantwortung zurzeit ein Erinnerungsmal, das den Titel ‚Zusammenhalt‘ trägt und den ersten Artikel unseres Grundgesetzes in Brailleschrift zitiert: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar!‘.“
Die „zweite Gründung“ der Stiftung
Eine weitere schwierige Zeit durchlebte die Stiftung zwischen 1957 und dem Anfang der 1970er Jahre. Aufgrund von Machtkämpfen von Blindenbildungseinrichtungen untereinander, den Forderungen von Selbsthilfeorganisationen und politischen Entscheidungen stand das Würzburger Blindeninstitut mit nur noch 16 blinden Schülern im Schuljahr 1972/73 vor der Auflösung. Doch die Entscheidung, auch sehbehinderte und geistig behinderte Kinder und Jugendliche zu unterrichten, sicherte den Fortbestand der Stiftung.
Eröffnung weiterer Blindeninstitute und Angebote
Wegen des steigenden Bedarfs an entsprechenden Schulen gründete die Stiftung außerhalb von Würzburg die Blindeninstitute in München (1978), Rückersdorf bei Nürnberg (1984), Regensburg (1990) und nach der Wende im thüringischen Schmalkalden (1994). Unter der Leitung von Dr. Hans Neugebauer wurden bis 2006 weitere Angebote etabliert: die Frühförderung Sehen, der mobile sonderpädagogische Dienst, die Tagesstätte, die Werkstatt für blinde und sehbehinderte Menschen, die Förderstätte, verschiedene Wohnangebot für Kinder und Erwachsene sowie medizinisch-therapeutische und Beratungsangebote. So wuchs die Blindeninstitutsstiftung zu einem modernen Sozialunternehmen, das heute rund 5.000 Menschen mit Behinderung in Bayern und Thüringen unterstützt, berät und begleitet.
Stiftungschronik schließt in vielerlei Hinsicht einen Kreis
Dass das 640 Seiten starke Buch trotz der Fülle an Informationen nicht überladen wirkt, verdankt es dem luftigen Layout des Grafikers Dieter Soldan und seines Teams, das mithilfe von Zeitstrahlen, Infoboxen, Grafiken und ansprechenden Bildern beim Durchblättern immer wieder zum Innehalten einlädt. Dieter Soldan, der bei der Buchveröffentlichung per Videoschalte aus Stuttgart zugeschaltet war, hatte bereits 1996 als erste Auftragsarbeit ein Buch von Dr. Wolfgang Drave gesetzt und unterstützt die Blindeninstitutsstiftung seitdem bei der Öffentlichkeitsarbeit und dem Fundraising. Gedruckt hat die Stiftungschronik die Würzburger Druckerei bonitasprint. Auch hier schließt sich ein Kreis: Schon den ersten Rechenschaftsbericht 1854 hatte das Vorgängerunternehmen Bonitas-Bauer gedruckt.
Abschließend dankte Stiftungsvorstand Johannes Spielmann den beiden Herausgebern Dr. Wolfgang Drave und Dr. Hans Neugebauer für die unzähligen Stunden mühevoller Recherche- und Archivarbeit, für ihren langen Atem und ihre zielstrebige Entschlossenheit sowie Vorstandsassistentin Brigitte Hummel und allen Beteiligten für ihren Beitrag zum Gelingen dieses „großen Schatzes“ für die Blindeninstitutsstiftung.
Die Chronik „Die Blindeninstitutsstiftung. Ihre Geschichte“ steht zum kostenfreien Download als PDF-Datei unter www.blindeninstitut.de/geschichte zur Verfügung. Gerne lassen wir Ihnen auch ein kostenloses Rezensionsexemplar per Post zukommen.